Helmut Roewer, Stefan Schäfer, Matthias Uhl:
Lexikon der Geheimdienste im 20. Jahrhundert, Herbig: München 2003, 527 S.
Rezension von Erich Schmidt-Eenboom
Mit nur drei Autoren derselben Spezialisierungsrichtung ein Lexikon der Geheimdienste im 20. Jahrhundert zu schreiben, ist eine große Herausforderung, die nur zum geringen Teil bewältigt worden ist. Einen unbestreitbar hohen Gebrauchswert weist das Nachschlagewerk da auf, wo es um die Sachbegriffe aus der nachrichtendienstlichen Terminologie geht. Von „Abschöpfen“ über „Gegenspionage“ und „Observation“ bis „Zugangslage“ findet der Benutzer präzise Erläuterung der Fachterminologie – leider in der Regel ohne Quellenangabe für die an Vertiefung interessierten Leserinnen und Leser. Der häufig stiefmütterlich behandelte Teil der nachrichtendienstlichen Technik ist überdies von „Abhorchdienst“ über „Enigma“ bis zur „Zentralstelle für das Chiffrierwesen (ZfChi)“ abgedeckt - allerdings häufig zu holzschnittartig wo z.B. der Horchdienst der Wehrmacht, der 1936 mit der ersten Horchfunkkompanie am Chiemsee aus der Taufe gehoben wurde, nur als Dienstzweig in den „30er/40er Jahren“ vorgestellt wird. Unübersehbare Lücken weist jedoch die in der Literatur hinreichend gut dokumentierte Fernmelde-Elektronische Aufklärung nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Die häufigste Legendierung für Aufklärungsstationen des BND „Bundesstelle für Fernmeldestatistik“ fehlt ebenso wie eine kartografisch leicht präsentierbare Übersicht über die Stationen der Hauptabteilung III des MfS, der ausländischen Nachrichtendienste in Deutschland, des BND und des Amtes für Nachrichtenwesen der Bundeswehr.
Richtig zu schwächeln beginnt das Werk im Sachteil dort, wo es um die Porträts
von Nachrichtendiensten in aller Welt und die Landesdarstellungen
geht. Auf den ersten Blick sind das KGB und andere östliche Dienste
ausführlich dargestellt, überdies die großen westlichen wie CIA,
NSA, DGSE oder MI6. Beim genaueren Hinsehen stößt auf, dass selbst
hier Angaben über den Etat oder den Personalumfang weitgehend fehlen.
Eine systematische Suche nach Staaten stößt sehr oft ins Leere.
Gerade für den BND nachrichtendienstlich bedeutende Staaten in Asien
– wie China, Taiwan, Japan oder Indonesien – fehlen ebenso wie afrikanische
Partner in Südafrika oder Nigeria. Selbst für Europa sucht der Leser
vergeblich nach Schweden, Norwegen oder Portugal, während Dänemark
oder Spanien mehr schlecht als recht skizziert sind. Der Ansatz,
sowohl Länderminiaturen wie Stichworte zu deren Landesgeheimdiensten
– häufig jedoch nur die Auflösung der Namensabkürzung - aufzuführen,
ist unglücklich, weil die spezifischen nationalen Merkmale der Dienste
dabei nicht aufscheinen und daneben häufig eine nachrichtendienstlich
irrelevante und willkürlich zusammengeschriebene Nationenkurzgeschichte
steht. Das stiftet auch bei den Autoren Verwirrung. So endet das
kurze Porträt Österreichs mit einem Verweis auf das Heerenachrichtenamt.
Der Verfassungsschutz der Alpenrepublik – die Stapo – bleibt unerwähnt,
obwohl ihr ein wenig aussagekräftiges Stichwort zuteil wird. Nach
welchen Gesichtspunkte manche Länder ausführlich, andere knapp und
viele gar nicht berücksichtigt wurden, ist nicht ersichtlich.„Der
Schwerpunkt der Abhandlung liegt in Deutschland und seinen Bezügen
zur Weltpolitik“, verspricht das Vorwort. Das hätte bedeutet, die
Relevanz der ausländischen Dienste für die Bundesrepublik auszuleuchten.
Wo dies im Ausnahmefall geschieht, wie bei Finnland, ist die Aussage
„Wechselseitige nachrichtendienstliche Inressen mit Deutschland
sind nicht bekannt geworden“ vor dem Hintergrund einer BND-Residentur
in Helsinki schon in den siebziger Jahren schlicht falsch. Die außenpolitischen
Kenntnislücken der Autoren treten auch da zutage, wo Syrien allein
auf die Rolle des Verantwortlichen für Attentate in West-Berlin
1983 und 1986 verkürzt wird, ohne ins Auge zu fassen, dass der BND
seit 1986 mit dem syrischen Luftwaffengeheimdienst kooperiert und
1989 eine Legalresidentur in Damaskus etablierte. Die fünf irakischen
Nachrichtendienste werden schlicht auf zwei reduziert, ohne viele
Informationen auf sie zu verschwenden. Die enge nachrichtendienstliche
Kooperation des früheren Geheimdienstchefs Saddam Hussein mit der
CIA oder dem BND bleibt unberichtet. Ein weitere Manko des Sachteils
liegt in einer ausgeprägten Regierungsgläubigkeit der Verfasser.
Die stay-behind-Organisation GLADIO sei 1983 aufgelöst worden, folgen
Roewer und seine Ko-Autoren einer frühen Stellungnahme aus Bonn,
obwohl Kanzleramtsminister Lutz Stavenhagen anschließend zu Protokoll
geben musste, sie habe bis 1990 bestanden. Der Plutoniumschmuggel
des BND 1995 in der Operation HADES wird zur „groß angelegten Medienkampagne
gegen den BND“ heruntergeschrieben und zentrale Operationen des
Bundesnachrichtendienstes – wie der jahrzehntelange wehrtechnische
Austausch mit dem Mossad in der Operation LONDON – fehlen gleich
ganz. Selbst gegenüber den NS-Nachrichtendiensten sind die Autoren
streckenweise um Exkulpation bemüht, wo sie beispielsweise in „Werwolf“
eine „vorgebliche (!) deutsche Untergrundarmee zu Ende des Zweiten
Weltkriegs“ sehen. Seine Fülle von 527 großformatigen Seiten verdankt das Werk dem Personenteil
und darin einem antikommunistischen Zettelkasten, der nahezu jeden
Ostagenten – selbst in bloßen Verdacht geratene – sowie Geheimdienstfunktionäre
der Sowjetunion und ihrer Satelliten bis hinunter zum Major und
tiefer katalogisiert. Eine Kongruenz zwischen den Heerscharen der
Ostspione und der ausgewerteten Literatur ist dabei nicht erkennbar.
Dagegen gilt: Im Westen nichts Neues. Nun kann man von einem gedruckten
Werk mit gut 2000 Personenangaben kaum erwarten, dass etwa alle
18.400 Mitarbeiter des OKW-Amtes Ausland/Abwehr erfaßt sind. Selbst
etwa 3.000 Angehörige des Führungskorps des SD übersteigen die Kapazität.
Man hätte also systematisch auswählen müssen: Alle ab einem bestimmtem
Dienstrang und bei herausgehobener Bedeutung in nachrichtendienstlichen
Operationen. Davon ist dieses Lexikon weit entfernt. Ob ein leitender
Geheimdienstmitarbeiter des Dritten Reichs aufscheint oder nicht,
hängt von purem Zufall ab. Die Offiziere der Abwehr sind nur sporadisch
vertreten. Zu den Generalstabsabteilungen Fremde Heere Ost und Fremde
Heere West sowie zum Reichssicherheitsdienst bleiben die Personenangaben
marginal. Bei den SD-Funktionären – sei es im SD-Hauptamt, im 1939
gegründeten Reichssicherheitshauptamt oder seinen Einsatzgruppen
– fehlen Hunderte von Spitzenleuten - so die Brigadeführer Wilhelm
Graf von Wedel, Jakob Sporrenberg, Johannes Thiele, die Standartenführer
Hans Tesmer, Rudolf Siegert, Walter Sohst, Karl Steinbacher, Paul
Werner – um nur einige zu nennen. In sehr vielen Fällen fehlen die
Geburtsdaten und Dienstränge der SD- und SS-Funktionäre, die doch
ohne große Mühe recherchierbar sind. Auch hier rächt sich der weitgehende
Verzicht der Autoren auf Primärquellen. Die durchgängige Kontinuität
von den NS-Nachrichtendiensten zu denen der Bundesrepublik Deutschland
wird durch Weglassung mancher Nachkriegskarriere auf Einzelfälle
reduziert. Leonhard Halmanseger beispielsweise findet sich als Gestapo-Referent,
seine Nachkriegstätigkeit im LfV Bayern wird verschwiegen, seine
Kollegen Erwin Jarosch und Paul Opitz fehlen gleich ganz. Zum BND
präsentieren die Verfasser nicht einmal eine öffentlich zugängliche
Feinglierung bis auf die Referatsebene, wie sie für die NS-Dienste
zum Teil erfolgt ist. Gerade dürftig vertreten ist die Pullacher
Führungsriege. Abteilungsleiter wie Leo Hepp, Konrad Kühlein, Hans-Christian
Pilster, Joachim Tzschaschel, Rainer Kesselring u.v.m. fehlen ebenso
wie bedeutende Residenten - Heinrich Rosenlehner, Günter Haendly
oder Wolbert Smidt. General Albert Praun wird auf seine Rolle im
Dritten Reich – zuletzt Leiter des Amtes Wehrmachtsnachrichtenverbindungen
– reduziert. Dass er ab September 1956 Leiter der Fernmeldeaufklärung
des BND war und erst 1965 aus dem BND ausschied, bleibt unerwähnt.
Die Geheimdienstkoordinatoren von Heinrich Krone bis Bernd Schmidbauer
fehlen völlig. Selbst in ihrer ureigensten Domäne bleiben die drei
Verfasser aus dem Umfeld des Erfurter Verfassungschutzes unbefriedigend.
Der Marinenachrichtendienst der k.u.k.-Monarchie ist besser dokumentiert
als es die westdeutschen Dienste der Nachkriegszeit sind. Das ist
umso merkwürdiger, als ein Teil der vorhandenen Lücken bereits aus
der Literatur hätte geschlossen werden können, die im Anhang als
ausgewertet angegeben wird. Ärgerlich ist überdies die fahrlässige Endkontrolle. Das Lexikon läßt Michail
Achmeteli 1952 sterben und 1956 in den BND eintreten. Der Standartenführer
Otto Sens war von „Oktober 1941-Mitte 1941 Leiter des Amtes III
(SD) beim BdS des Generalgouvernements“, formulieren die zeitreisenden
Verfasser und unterschlagen zugleich seine Funktion als Leiter der
Staatspolizeistelle Dessau 1938/39. Der Referatsleiter I A 2 im
RSHA war zum 1. März 1941 war Karl Tent, nicht Trent. Weder in der
einen noch in der anderen Schreibweise taucht der am 25.8.1894 geborene
SS-Sturmbannführer im Lexikon auf. Der Standartenführer Ludwig Hahn,
geb. 23.1.1908, wird bei Roewer u.a. ohne Geburtsdatum mit dem falschen
Dienstrang „Sturmbannführer“ erfaßt. Übersehen wurde seine Beförderung
zum Standartenführer am 20.4.1944 ebenso wie seine Verwendung als
Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD für den Distrikt Warschau.
Allein die Lücken und Mängel bei den SD-Funktionären aufzuzählen
würde den Rahmen einer Rezension um ein Vielfaches sprengen. Auf
eine Kohärenz von Gliederungsbildern und Biographien wurde gleich
vollständig verzichtet. So war Erwin Schulz laut Text ab März 1941
im RSHA Gruppenleiter I A und I B, laut Grafik jedoch Referatsleiter
I D 1. Die meisten SS-Offiziere aus der Gliederung des Reichssicherheitshauptamts
fallen ohnehin unter den Tisch. Der Adjutant von Wilhelm Canaris
taucht im Gliederungsbild des OKW-Amtes Ausland/Abwehr als Jenke
auf. Eine biografische Notiz zum 1952 verstorbenen Willi Jenke -
von 1938 bis 1944 zunächst als Oberstleutnant, dann als Oberst bei
Canaris - fehlt, während so mancher kleine Offizier der Brandenburger
Erwähnung findet. Ein Beispiel für die krude Mischung aus Kommentar,
Marginalie und lückenhafter Vita ist der Eintrag über den im Funkgegenspiel
NORDPOL 1942 bis 1944 hervorgetretenen Sturmbannführer Josef Schreieder.
Die Drohung des Spionageabwehrleiters des LfV München, unangemeldet
nach Bayern einreisende BfV-Mitarbeiter festzunehmen, sei „ ein
hübsches Beispiel für die besonderen Beziehungen zwischen Bayern
und dem Bund“. Schreieder – „nach dem Krieg beim BND“, der erst
1956 gegründet wurde - sei die Äußerung allerdings nur zuzuzordnen,
wenn er dem Jahrgang 1905 entstamme. Tatsächlich wurde der Kriminaldirektor
Joseph Schreieder am 15. August 1904 geboren, G-Leiter in München
war er in den 60er Jahren dennoch. Anstelle einer ab einer festgelegten
Dienstgradebene auf Vollständigkeit bedachten Darstellung wimmelt
das Werk von wahllos aufgelesenen Splittern. Johannes Horaczek beispielsweise
wird in vier Zeilen als Leiter der Abwehrstelle Ostpreußen vor dem
Zweiten Weltkrieg und als Leiter der Abwehrstelle Warschau im Krieg
vorgestellt. Hat der Benutzer eines Lexikons nicht wenigstens den
Minimalanspruch zu erfahren, dass der Major vom 14.6.1896 bis zum
31.12.1970 lebte? Müßten nicht wenigsten die jüngsten Sterbedaten
von BND-Präsident Eberhard Blum, Georg Baily, oder dem BND-Referatsleiter
Waldemar Markwardt berücksichtigt sein? Vertretbar wären solche
Häufung von Bruchstücken und Teilaspekten allenfalls als Fundstellenverzeichnis
zur Fachliteratur. Doch die bleiben die Autoren schuldig. Dem Insider
erschließt sich häufig leicht, wo abgekupfert wurde, wenn er beispielsweise
die Vita von Baron Heinrich Mast betrachtet, die aus dem 2002 erschienenen
Buch „Gegen Freund und Feind“ von Peter und Michael Müller stammt.
Wenigstens wo die Autoren des Lexikons publizierte Angaben pauschal
in Zweifel ziehen, sollten sie mit einer Quellenangabe aufwarten.
Raum für wissenschaftlich redliche Nachweise wäre genug gewesen,
wenn Roewer und seine Mitstreiter auf Hunderte sachfremder oder
abwegiger Literaturangaben verzichtet hätten. Dass Tzschirner-Bey
1918 „Zur vaterländischen Bedeutung von Karl May“ publizierte, oder
dass der spätere BND-Präsident Hans-Georg Wieck 1958 „Christliche
und Freie Demokraten in Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden und Württemberg“
porträtierte, ist für ein Geheimdienstlexikon unerheblich. Über
die weit mehr als 1.000 Abbildungen kann man geteilter Meinung sein.
Sie lockern das Werk einerseits auf. Andererseits rauben sie den
Platz, der für präzisere Information so dringend gebraucht würde.
Man sollte sie in die zugesagte, aber noch ausstehende Internet-Seite
zur Ergänzung des Buchs stellen. Als störend in einem Lexikon erweisen
sich überdies die vielen privaten Meinungsäußerungen und zum Teil
hämische Kommentare wie jener, dass der „Begriff des Kundschafters
eher aus der Karl-May-Lektüre geläufig“ sei, während er eben nicht
DDR-spezifisch ist, sondern auch in den preußischen und k.u.k.-Diensten
geläufig war. Ein Nachschlagewerk, das um Neutralität und Konzentration
auf das Wesentliche bemüht sein müßte, sollte auf saloppe Bemerkungen
wie der BKA-Präsident Boeden war „beliebt bei den Beamten des mittleren
Dienstes“ oder der Jargonausdruck des MfS „Pfaumenfälle“ bringe
„ein besonders unfreundliches Frauenbild zum Ausdruck“ ebenso verzichten
wie auf die Urteilsschelte gegenüber der Entscheidung des Bundesverfassungerichts
vom Mai 1995 zur Straffreiheit für MfS-Angehörige (Amnestiegesetz).
Der enge Blickwinkel wird da deutlich wo „Unsichtbare Front“ als
DDR-Euphemismus gebrandmarkt wird, wohl ohne zu ahnen, dass Andrew
Tully 1963 just unter diesem Titel eine durchaus regierungsnahe
Darstellung des amerikanischen Geheimdienstes veröffentlichte. Dieses Lexikon täuscht den Laien, enttäuscht den Sachkundigeren und muss Experten
aller Spezialisierungsrichtungen geradezu entsetzen. Als halbwegs
verläßliches Nachschlagewerk über nachrichtendienstlich relevante
Personen für den wissenschaftlichen oder publizistischen Gebrauch
ist es völlig untauglich, allenfalls für das Heer der Ostagenten
ergiebig, für den Bereich der deutschen Dienste (ohne DDR) rudimentär.
Seiner zahlreichen Raritäten und einzelner, in der offenen Literatur
nirgendwo auffindbarer Daten wegen wird es der Geheimdienstinteressierte
dennoch erwerben müssen und als Fundgrube, die die ernsthafte Fachliteratur
ergänzt, gelegentlich zu schätzen wissen.
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