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Braune Spuren auf weißer Weste - Der Umgang des MfS mit NS-Verbrechern

Rezension von Erich Schmidt-Eenboom


Antifaschismus hatte in der Deutschen Demokratischen Republik den Rang einer Staatsdoktrin, diente dazu, im Innern den Verfassungspatriotismus zu stärken, den westdeutschen Konkurrenzstaat angesichts seiner lange verbrechensblinden Integrationspolitik anzuschwärzen und auf der internationalen Bühne das bessere Deutschland zu verkörpern. Henry Leide erschließt zahlreiche Dimensionen des DDR-Umgangs mit der faschistischen Vergangenheit Deutschlands, die in deutlichem Widerspruch zu dieser plakativen Propaganda standen.

Nachdem der wissenschaftliche Mitarbeiter in der Rostocker Außenstelle der Birthler-Behörde in großer Ausführlichkeit die Aneignung der Verfügungsgewalt über NS-Sachen durch das MfS und den Aufbau der Geheimarchive dargestellt hat, kommt Leide zum Kern: Die verschwiegene Integrationspolitik, die für NS-Belastete den Weg vom Volksgenossen zum Genossen frei machte, und die dazu führte, dass selbst in der SED und ihren Kampfgruppen scharenweise Parteigänger der NSDAP reüssieren konnten. In diese Kategorie der politischen Resozialisierung fällt auch die Gründung der National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD) als Auffangbecken für reuige Getreue Hitlers analog zu dem FPÖ-Vorläufer "Verband der Unabhängigen" in Österreich oder dem "Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten" (BHE) und der "Deutschen Volkspartei" (DVP) in der BRD, die allesamt nachrichtendienstlich unterwandert waren.

Zur Doppelzüngigkeit antifaschistischer Propaganda und realsozialistischer Tagespolitik passen selbst die von planloser Willkür bestimmten Waldheim-Prozesse der 1950er Jahre, in denen tatsächliche und vermeintliche Kriegsverbrecher verurteilt wurden, um zum Teil ab 1952 nach ebenso undurchsichtigen Prinzipien begnadigt zu werden. Selbst bei der Strafverfolgung von 134 ermittelten Kriegsverbrechern aus den Polizeibataillonen 310 und 311 gab es nur sehr wenige der sorgfältig vor- und propagandistisch aufbereiteten Vorzeigeprozesse, die demonstrieren sollten, dass die DDR im Gegensatz zur Bundesrepublik NS-Verbrechen konsequent verfolge. Zahlreiche NS-Täter wurden amnestiert und nach relativ kurzer Haftzeit wieder freigelassen. Gegen andere wurden gar nicht erst Ermittlungen aufgenommen, insbesondere dann, wenn die Betroffenen – wie im Fall einer an Euthanasieverbrechen beteiligten Ärztin aus Jena – inzwischen zum Establishment der DDR zählten. Zu lupenrein hatte die DDR sich als antifaschistisches Musterländle präsentiert, um ihrerseits braune Spuren auf der weißen Weste einzugestehen. So blieben Hunderte von Personen von Strafverfahren verschont, obwohl dem MfS in vielen Fällen konkrete Anhaltspunkte für eine Beteiligung an Kriegsverbrechen bzw. Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorlagen. Die Verschleierungsstrategie des MfS reichte bis zur Begünstigung von NS-Tätern, die im Ausland rechtskräftig verurteilt worden waren und zur Torpedierung israelischer und westdeutscher Ersuchen um Amtshilfe.

Überdies warb das MfS für eigene Zwecke viele Männer als inoffizielle Mitarbeiter an, gegen die - über die bloße Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Organisation wie der SS hinaus - erhebliche Verdachtsgründe über Kriegsverbrechen vorlagen. Zwar gab es entgegen anders lautender Westpropaganda unter den hauptamtlichen MfS-Mitarbeitern keinen einzigen ehemaligen NS-Geheimdienstler, aber das Ministerium für Staatssicherheit bediente sich sowohl bei der Gewinnung von IM im Inneren, wie bei der Gegenspionage gegen die Organisation Gehlen solcher Figuren, ähnlich wie der israelische Inlandsnachrichtendienst Shinbeth den Wehrmachtsoffizier Otto Joklik in Südamerika eingesetzt hatte, um der auf 3.000 Köpfe geschätzten NS-Fluchthilfeorganisation ODESSA auf die Schliche zu kommen.

Zu den krassesten Beispielen zählen beim MfS die ehemaligen SS-Offiziere Hans Sommer und Ernst Schwarzwäller. Der SS-Obersturmführer Sommer – zeitweise SD-Chef von Nizza - hatte im besetzten Paris im Oktober 1941 sieben Synagogen gesprengt, war 1950 Leiter der Untervertretung Baden der Organisation Gehlen (OG) in Konstanz und wechselte als Leiter zur Bezirksvertretung Nord nach Hamburg, bevor er im August 1953 aus Gehlens Diensten entlassen wurde. Ein knappes Jahr später begann seine dritte Geheimdienstkarriere als GM "Rumland" beim MfS, für das er – ab 1960 auslaufend – letztlich bis 1968 vornehmlich die Personalstruktur des westdeutschen Auslandsnachrichtendienstes aufklärte. Der SS-Untersturmführer und SD-Außenstellenleiter in Schneidemühl Schwarzwäller war im November 1951 in Hamburg in die OG eingestiegen und flog dort schon zwei Jahre später hinaus. Im Februar 1954 erlag er den Lockungen der DDR-Spionageabwehr und arbeitete bis zu der Flucht in die DDR wegen einer drohenden Festnahme 1959 ertragreich und gut honoriert als Geheimer Hauptinformant "Hirsch" für das MfS gegen OG und BND.

Weitere 33 Fallbeispiele dokumentieren zahlreiche Facetten der Funktion, die das MfS als Schild der Partei auch auf dem Feld der Vergangenheitsbewältigung hatte. Die Darstellung dieses dunklen Kapitels der DDR-Geschichte kommt ohne Zorn und Eifer daher, differenziert in jedem Einzelfall. Auch wenn der historisch Interessierte den ein oder anderen Namen gern ausgeschrieben sähe, ist insgesamt beim Abwägen zwischen "outing" und dem Schutz von Persönlichkeitsrechten eine sorgsame Hand zu spüren. Allzu oft greifen Rezensenten zu der Wendung "akribisch recherchiert". Leide hat sich dieses Prädikat redlich verdient, nicht nur viele Aktenmeter der eigenen Behörde erschlossen, sondern auch weitere Primärquellen und die Sekundärliteratur bis in die kleinsten Verästelungen erschlossen.

Auf den Versuch, die unterschiedliche Nutzung der NS-Eliten in Ost und West qualitativ oder quantitativ zu gewichten, hat er mangels empirischen Vergleichsmaterials bewusst verzichtet. Die ständig wachsende Flut von Einzeldarstellungen zur personellen Kontinuität von Würden- und Bannerträgern des Dritten Reichs in Organisationen und Machtzentren der jungen Bundesrepublik verbietet jedoch, Ausnahme (DDR) und Regel (BRD) über einen Leisten zu schlagen. Für die Abstützung der USA auf NS-Kriegsverbrecher fehlt zwar eine systematische Auswertung, ihre Ausmaß ist jedoch evident: Im März 2005 wurde das Mandat der Regierungsarbeitsgruppe zur Offenlegung von CIA-Dokumenten um zwei Jahre verlängert, um über die bereits frei gegebenen 1,25 Millionen Aktenseiten hinaus weiteres Material über die Beziehungen von US-Behörden zu NS-Kriegsverbrechern zu erschließen.

Leide, Henry: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 2005, 448 S.